Toni Schuberl

Mitglied des Bayerischen Landtags

Wie sich der Tod veränderte

Statistische Betrachtung der Todesfälle in Zenting von 1869 bis 1920

ANTON SCHUBERL
Wie sich der Tod veränderte
Statistische Betrachtung der Todesfälle in Zenting von 1869 bis 1920

Im1 Untersuchungszeitraum, beginnend 1869 kurz vor Gründung des deutschen Kaiserreichs und endend 1920 kurz nach dessen Untergang2, lassen sich interessante Veränderungen bei den Todesursachen in der Pfarrei Zenting3 beobachten. Es ist eine Phase des wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwungs, die auch tiefgreifende Veränderungen im Leben der Menschen mit sich brachte. Interessant ist nicht nur, welche Ursachen für die 1451 Todesfälle4 in diesem Zeitraum aufgeführt werden und wie groß ihr Anteil ist, sondern auch, welche fehlen oder im Laufe der Jahre weniger werden oder verschwinden. Hierbei werden auffällige Veränderungen an ausgewählten Krankheiten wie „Fraisen“, Diphtherie, Keuchhusten, Tuberkulose und Typhus sowie das Fehlen von Pocken und der Spanischen Grippe thematisiert.

***
(Grafik: Anzahl der Todesfälle)

1Dieser Beitrag basiert auf den in abgewandelter und detaillierterer Form erschienenen Ausführungen in: Anton SCHUBERL: Das lange 19. Jahrhundert (1789-1914), in: Anton SCHUBERL / Rudolf HIMPSL, Zenting, Hengersberg 2021, S. 78-255, insbesondere S. 121-131.
2Dieser Zeitraum deckt sich mit dem Zeitraum des im Archiv des Bistums Passau (ABP) aufbewahrten Sterbebuch[s] Zenting, Bd. 7.1 (1869-1917), ergänzt um die Angaben aus dem Sterbebuch, Bd. 28, S. 5-9 (1918-1920).
3Ab 1789 war Zenting eine Expositur mit eigenem Friedhof innerhalb der Pfarrei Schöllnach. Damals umfasste die Expositur 738 Personen. Ab 1895 war Zenting eine eigene Pfarrei. Im Untersuchungszeitraum wechselte Ölberg 1894 aus der Expositur Zenting in die Pfarrei Langfurt. 1897 kam Ebenreuth aus der Pfarrei Thurmansbang zur Pfarrei Zenting. 1908 verlor die Pfarrei Zenting die Orte Bradlberg, Predling, Prünst, Simmetsreut, Thann und Unteraign und damit fast die Hälfte ihres Gebietes an die neu errichtete Expositur Riggerding, die zur Pfarrei Schöllnach gehörte, und 1920 zu einer eigenen Pfarrei geworden ist. SCHUBERL/HIMPSL, Zenting (wie Anm. 1), S. 168 ff., 184 f. Riggerding hatte ab 1909 einen Friedhof und führte ab 1910 ein eigenes Sterbebuch. Im Zeitraum von 1910 bis 1920 sind in Riggerding 123 Personen beerdigt worden. Dabei wurde am 30.1.1911 eine Verstorbene in beiden Orten in den Büchern vermerkt. ABP, Sterbebuch Riggerding, Bd. 3.
4Die konkrete Nennung jeder einzelnen Todesursache und ihrer Häufigkeit findet sich in SCHUBERL/HIMPSL, Zenting (wie Anm. 1) in den Endnoten 426-475.
***

Betrachtet man die absoluten Zahlen der Todesfälle, sieht man, dass sich Ausschläge nach oben mit solchen nach unten fast schon in einer gewissen Regelmäßigkeit abwechselten. Es sind jedoch völlig unterschiedliche Ursachen, die zu diesen Spitzen führen. 1871 starben besonders viele an Wassersucht und auch Typhus ging um. 1876 schlugen Fraisen und Abzehrung nach oben aus, 1881 sticht Diphtherie als Todesursache heraus, 1886, 1891 und 1892 war es Abzehrung, 1899 und 1905 gab es viele Geburtskomplikationen.

Die starke Zickzack-Bewegung der Todeszahlen kann vielleicht darauf zurückzuführen sein, dass Krankheitsausbrüche viele schwache und bereits mit anderen Krankheiten belastete Menschen frühzeitig und gehäuft töteten, die in den Folgejahren auf andere Weise gestorben wären. Daher ging die Todeszahl nach solchen Ausschlägen nach oben auch wieder deutlich nach unten, da es nun weniger schwache oder belastete Personen gab.

Die Hälfte der Verstorbenen waren Kinder unter 12 Jahren. Dieser Anteil bleibt bei Schwankungen zwischen 30 bis 80 Prozent über den gesamten Untersuchungszeitraum im Durchschnitt ohne Tendenz nach oben oder unten ungefähr gleich bei 50 Prozent. Sehr viele Kinder, nämlich 200, starben im Zusammenhang mit der Geburt, vereinzelt wurden sie sogar im Mutterleib durch den Arzt getötet. Interessant ist, dass als Todesursache für die Mutter die Entbindung oder deren Folgen jedoch nur elfmal angeführt worden sind.

Eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern und Jugendlichen war die Fraisen. Das war der Begriff für Krankheiten, die mit schweren Krämpfen einhergingen. Es wird vermutet, dass mehrere Schwangerschaften im Jahresabstand zu Kalziummangel bei der Mutter und damit indirekt beim Kind führten und damit einhergehend ein Mangel an Vitamin D zu diesen Krämpfen geführt haben soll. Allein 1876 starben in der Zentinger Pfarrei 17 Kinder daran, neun davon waren drei Wochen oder jünger und weitere sieben 20 Wochen oder jünger. Seit 1888 spielt diese Krankheit aber kaum mehr eine Rolle. Dies kann ein Hinweis auf eine veränderte Ernährung sein, wodurch die Mangelerscheinungen weniger wurden.

Im gesamten Untersuchungszeitraum traten keine Pocken-Toten mehr auf. Dies war in der Zeit davor ganz anders. Noch 1806 starb von Januar bis Juni in der Expositur Zenting die ungeheure Anzahl von 19 Kindern im Alter von 5 Monaten bis 14 Jahren an „Blattern“, wie die Pocken bei uns hießen. Doch im darauffolgenden Jahr wurde in Bayern das weltweit erste Gesetz zu einer Impfpflicht in einem Staat erlassen, da sich die Impfung auf freiwilliger Basis nicht ausreichend durchgesetzt hatte. Es mussten alle Kinder bis zum dritten Lebensjahr und auch die bisher nicht geimpften älteren Personen geimpft werden. Wer dies versäumte, musste eine Strafe zahlen. Auch in Zenting wurde daraufhin geimpft und fortan kam es nie wieder zu solch einer hohen Anzahl an Pocken-Toten5.

Doch es waren entweder doch nicht alle geimpft oder es hörte der Impfschutz nach ein paar Jahrzehnten wieder auf. Es traten nämlich erneut Pocken in Zenting auf, aber mit deutlich weniger Opfern. So starben 1853/54 noch vier, 1865 starb eine und 1867 starben zwei Personen. Nun waren jedoch ausschließlich Erwachsene oder Säuglinge, aber nicht mehr Kinder betroffen6. Das kann möglicherweise darauf hindeuten, dass Erwachsene, die zwar als Kinder geimpft worden sind, deren Impfschutz aber seine Wirkung verloren hatte, jene Säuglinge ansteckten, die aufgrund ihres jungen Alters noch nicht geimpft waren. Dieses Problem wurde erkannt und mit der Einführung der Pflicht zur Auffrischungsimpfung gelöst. 1874 ist mit dem Impfgesetz die Impfpflicht einheitlich für das ganze Deutsche Reich eingeführt worden,

(Grafik: Tote durch Diphterie)

***
5 SCHUBERL/HIMPSL, Zenting (wie Anm. 1), S.114-118.
6 Säuglinge im Alter von 2, 10, 18 und 22 Wochen und Erwachsene mit 31, 41 und 53 Jahren. ABP, Sterbebuch Zenting, Bd. 5.1, S. 120 ff., 196, 214.
***

wodurch nicht nur Säuglinge, sondern auch jedes 12-jährige Kind, das eine Schule besucht, impfpflichtig geworden ist. Diese Reform der Impfpflicht war wohl die Ursache dafür, dass es nach den letzten Fällen 1867 bis 1920 und wahrscheinlich darüber hinaus in Zenting keinen einzigen Todesfall mehr an Pocken gab. Diphtherie bietet ein weiteres Beispiel für die Auswirkungen moderner Arzneimittel auf die Todesursachen. 1894 ist Emil von Behring der Durchbruch in einer Kooperation mit der Firma Hoechst zur Produktion eines Serums zur Behandlung von Diphtherie-Kranken gelungen. Die Zahl an Diphtherie-Toten konnte deutlich gesenkt werden. Diesen Effekt scheint man auch an den Todeszahlen in Zenting ablesen zu können, da nach 1894 nur noch selten und dann pro Jahr nur einzelne Personen daran starben. Dies deutet darauf hin, dass das Medikament unmittelbar nach der Entwicklung auch in Zenting eingesetzt worden ist. 1923 ist zusätzlich zu dem Medikament auch eine Impfung gegen Diphtherie entwickelt worden.

(Grafik: Tote durch Keuchhusten und Tuberkulose)

Wenn man unter den Lungenleiden7 die durch Keuchhusten und Tuberkulose verursachten Todesfälle gesondert betrachtet, scheint es, als würde die eine Krankheit auf die andere folgen. Keuchhusten hat Höhepunkte 1880, 1885, 1888 und 1892. Die Höhepunkte bei der Tuberkulose sind 1895 und 1900. Eventuell war die Bevölkerung nach den gehäuften Keuchhustenfällen ausreichend immunisiert, so dass sich diese Krankheit vorerst nicht mehr ausbreiten konnte oder sie zumindest nicht mehr zu vielen Todesfällen führte. Ähnliches mag danach für Tuberkulose gelten.

(Grafik: Tote durch Typhus)

***
7
Es starben insgesamt 243 Personen an Lungenleiden, darunter 51 an Tuberkulose oder Schwindsucht und 41 an Keuchhusten.
***

Während noch 1880 von einer Typhus-Epidemie mit Quarantäne-Anordnung in Burgsdorf (Pfarrei Zenting) gesprochen worden ist, verschwand Typhus als Todesursache ab 1881, mit einer Ausnahme 1886. Da die fäkal-orale Verbreitung von Typhus auch durch Hygienemaßnahmen verhindert werden kann, ist das Verschwinden von Typhus vielleicht auch ein Hinweis auf größere Reinlichkeit8, insbesondere bezüglich der Trennung von Abwasser und Frischwasser.

Die Feststellung der Todesursache in den Kirchenbüchern9 ist kritisch zu betrachten. Nicht immer konnte die unmittelbare Ursache eindeutig geklärt werden. Eine einzige Ursache aus teilweise mehreren vorliegenden Ursachen wurde ausgewählt, meist war kein Arzt anwesend und es ist quasi nie eine Obduktion durchgeführt worden. Darüber hinaus wurden, vor allem anfangs, eher Symptome (z. B. Wassersucht) statt Krankheiten benannt. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Tod durch Abmagerung und Schwäche, der bei Säuglingen als Lebensschwäche, bei Kindern und Jugendlichen als Abzehrung oder Atrophie und bei älteren Menschen als Altersschwäche bezeichnet wurde, ohne die dahinter liegende Ursache zu benennen. Während der 52 Jahre des Untersuchungszeitraums starben 140 Personen an Altersschwäche, relativ gleichmäßig über die Jahre verteilt.

Heute wird statt Altersschwäche häufig Herzstillstand als Todesursache angegeben. An Herzkrankheiten starben weitere 30 Menschen. Hinter dem Begriff der Wassersucht, an der 162 Personen gestorben sind, verstecken sich möglicherweise noch weitere Herzkrankheiten, denn Herzinsuffizienz verursacht häufig Wassereinlagerung im Körper. Gehirnkrankheiten waren 69-mal Ursache für den Tod, wohl meist in Form eines Schlaganfalls, der aber unter verschiedenen Namen auftaucht, wie z. B. Schlagfluss. In den 1890er- Jahren waren Todesfälle aufgrund von Darmkrankheiten, z. B. „Darmkatarrh“, gehäuft. Insgesamt starben 79 Menschen daran.

(Grafik: Tod durch Darmkrankheiten)

Relativ selten, neunmal, taucht Krebs als Todesursache auf. Dieser ist jedoch nicht unbedingt immer erkannt worden und verbirgt sich vielleicht hinter „Blutarmut“ oder Darmkrankheiten.

Interessant ist, dass die Spanische Grippe Zenting anscheinend verschont hat. Lediglich zwei Todesfälle traten 1918/19 aufgrund von Grippe auf10. Im gesamten Untersuchungszeitraum werden nur zehn Todesfälle auf die Grippe zurückgeführt.

***
8
Die Reinlichkeit im Bezirk Grafenau war laut Physikatsbericht von 1860 (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 6874(56, 419a) zwar entsprechend der damaligen Zeit nicht besonders hoch, es herrschte aber auch keine besondere Unreinlichkeit. SCHUBERL/HIMPSL, Zenting (wie Anm. 1), S. 80.
9Im Untersuchungszeitraum führten in erster Linie die Priester Maximilian Pummer (1864-1875), Johann Bapt. Hausner (1875 1885), Michael Wührer (1886-1910) und Franz Xaver Duschl (1911- 1928) die Kirchenbücher. SCHUBERL/HIMPSL, Zenting (wie Anm. 1), S. 205-208. 10ABP, Sterbebuch Zenting, Bd. 28, S. 6. In Riggerding sterben von 1918 bis 1920 insgesamt sechs Personen. ABP, Sterbebuch Rigger ding, Bd. 3, S. 12-16. 
***

Die exemplarische Auswahl dieser Pfarrei und des Untersuchungszeitraums führen zu keiner statistischen Repräsentativität für die gesamte Bevölkerung. Die Veränderungen bei den Todesursachen sind teilweise jedoch so deutlich erkennbar, dass man trotzdem davon sprechen kann, hier die Auswirkungen moderner Medizin in Form von Impfungen und Medikamenten und wohl auch den Fortschritt in Hygiene und Ernährung an diesem Beispiel nachweisen zu können. 

Keine Neuigkeit und Veranstaltung versäumen?

Diese Website ist gemacht mit TYPO3 GRÜNE, einem kostenlosen TYPO3-Template für alle Gliederungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
TYPO3 und sein Logo sind Marken der TYPO3 Association.